QUELLE : NZZ (Neue Zürcher Zeitung)
4. Oktober 2000
Lob und Tadel für Menschenrechtspolitik
rom. Bern, 3. Oktober
Der Nationalrat beschäftigte sich am Dienstag,
Sitzungsbeginn 8 Uhr, mit dem Bericht über die
Menschenrechtspolitik der Schweiz.
Wie Kommissionsreferentin Vreni Müller-Hemmi (sp.,
Zürich) erläutert, geht der Bericht auf ein Postulat der
früheren Berner SP-Nationalrätin Ursula Bäumlin zurück.
Die heutige Diskussion gibt Gelegenheit, uns
grundsätzlicher mit der schweizerischen
Menschenrechtspolitik und namentlich mit deren Kohärenz
auseinanderzusetzen. Die zwar gründliche und
beeindruckende Auslegeordnung im Bericht lässt eine
kritische Würdigung vermissen. Umstrittene Projekte wie
etwa der Drei-Schluchten-Staudamm oder der
Ilisu-Staudamm finden keine Erwähnung, und auf die zum
Teil unterschiedliche Sicht von EDA und EVD wird nicht
eingegangen. Was in diesem Bericht noch ausgeblendet
wurde, kann aber nachgeholt werden. In diesem Sinn
unterstützt die aussenpolitische Kommission eine
regelmässige Berichterstattung im Sinn eines
konstruktiven Controllings. Angesichts der tagtäglich
weltweiten Menschenrechtsverletzungen gibt es nur eines:
sich tagtäglich noch intensiver für die Menschenrechte
einzusetzen.
Laut dem französischsprachigen Berichterstatter Claude
Frey (fdp., Neuenburg) soll künftig einmal pro
Legislaturperiode über die Menschenrechtspolitik der
Schweiz Rechenschaft abgelegt werden. Der Votant
plädiert namentlich dafür, dass die Schweiz sich
vermehrtfür die in Genf domizilierten internationalen
Organisationen einsetzt, die sich im weitesten Sinn um
die Wahrung der Menschenrechte kümmern.
Es folgen nun rund 20 Einzelvoten zum Bericht :
Als erste Rednerin setzt sich Lisbeth Fehr (svp.,
Zürich) mit der besonderen Rolle der neutralen Schweiz
in der Menschenrechtspolitik auseinander. Die
Gratwanderung zwischen wirtschaftlichen Interessen und
Wahrung der Menschenrechte entbehrt nicht ganz der
Schlitzohrigkeit, und etwas mehr Zivilcourage wäre
namentlich im Fall Tibets angezeigt.
Die Waffe des Schwächeren
Rosmarie Zapfl (cvp., Zürich) kritisiert, dass die
Aussenwirtschaft die positiven Aspekte der
Menschenrechtspolitik noch nicht entdeckt hat.
Menschenrechte sind die Waffe der Schwächeren.
Doch werden sie erst wirklich zum Recht, wenn sie auch
durchsetzbar sind. Die Schweizer Menschenrechtspolitik
stösst an Grenzen, weil wir nicht Mitglied der Uno sind.
Anne-Catherine Ménétrey (gp., Waadt) beklagt, dass vor
allem Frauen Opfer von Menschenrechtsverletzungen sind,
etwa bei der Beschneidung der Geschlechtsteile, doch
werden diese Verfolgungstatbestände beim schweizerischen
Asylverfahren nicht als echte Fluchtgründe
berücksichtigt.
Für Heiner Studer (evp., Zürich) ist wichtig, dass die
schweizerische Aussenpolitik auch den Mut hat, in
Einzelfällen die Stimme zu erheben, beispielsweise bei
Christenverfolgungen in gewissen Ländern.
Claude Ruey (lib., Waadt) befürchtet, dass der
Menschenrechtsdialog zum blossen Ritual verkommen
könnte. Viele Staaten unterschreiben aus blossem
Eigeninteresse entsprechende Vereinbarungen, wohl
wissend, dass wirkliche Kontrollmöglichkeiten fehlen.
Die Verteidigung der Menschenrechte ist einerseits ein
ehrgeiziges Projekt, andererseits ist dabei auch eine
gewisse Bescheidenheit angezeigt.
Für Lili Nabholz (fdp., Zürich) ist die
Menschenrechtspolitik keine schöngeistige Angelegenheit,
sondern ein hartes Geschäft. Oft ist es einfacher, zum
generell abstrakten Prinzip Ja zu sagen, als dieses im
konkreten Einzelfall umzusetzen. Es ist etwas billig,
immer die Politik des EDA gegen jene des EVD
auszuspielen. Menschenrechte sind das wichtigste
Fundament für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum.
Franco Cavalli (sp., Tessin) möchte vermeiden, dass die
Menschenrechtspolitik zur blossen Sonntagsrede verkommt.
Gerade in der laufenden Session hat man es abgelehnt,
die Berücksichtigung der Menschenrechte ausdrücklich im
Exportförderungsgesetz festzuschreiben. Im Zusammenhang
mit den Menschenrechtsverletzungen wären auch die
Zustände in amerikanischen Gefängnissen und die
Todesstrafe in den USA zu nennen. Man spricht bereits
davon, dass der erste Serienmörder amerikanischer
Präsident werden könnte. Die Schweiz sollte aufhören, im
Schlepptau der USA das Embargo gegen den Irak zu
befolgen, das unzählige Opfer fordert.
Chinas Diktatur mitfeiern?
Ruth Gonseth (gp., Basel-Landschaft) spricht dem Bericht
die Glaubwürdigkeit ab, denn die Menschenrechte werden
stets den wirtschaftlichen Interessen untergeordnet. Als
konkretes Beispiel führt die Votantin die Chinapolitik
an: Die Schweiz schaut beim systematischen Völkermord in
Tibet zu und feiert sogar 50 Jahre chinesische Diktatur
mit. Beim jüngsten Besuch des Bundespräsidenten hat die
Schweiz nicht nur ihre Kohärenz, sondern auch ihre Würde
verloren.
Auch Mario Fehr (sp. Zürich) kritisiert die
Pilgerfahrten nach China, bei denen die Menschenrechte
regelmässig zur Sprache kommen. Gleichzeitig werden
Systemkritiker eingesperrt, gefoltert und umgebracht.
Christen und Minderheitsvölker werden gnadenlos
verfolgt. Die chinesischen Machthaber haben sich
längstens auf den vermeintlichen Menschenrechtsdialog
eingerichtet. Wenigstens im Rahmen der WTO hätte die
Schweiz die Möglichkeit gehabt, ein Zeichen zu setzen.
Marc Suter (fdp., Bern) betont hingegen, dass auch der
Handel den Boden für den Dialog ebnet. Die Aufnahme der
Wirtschaftsbeziehungen zur ehemaligen Sowjetunion hat
wesentlich dazu beigetragen, dass das totalitäre System
schliesslich untergegangen ist. Es herrscht tatsächlich
keine Freude in China, aber wir müssen mit diesen Leuten
im Gespräch bleiben. Wirtschaftsbeziehungen fördern die
Menschenrechte - von einem Gegensatz kann keine Rede
sein.
Ulrich Schlüer (svp., Zürich) erinnert daran, dass es
mächtige Länder gibt, die sich ebenfalls auf die
Menschenrechte berufen, jedoch die Todesstrafe anwenden.
Menschenrechte sind leider in der Politik vieldeutig. Zu
Recht werden Anstrengungen zum Bruch des Boykotts gegen
den Irak unternommen. Die gleichen Kreise fordern aber
einen neuen Boykott gegen Sierra Leone mit dem Risiko,
dass man in ein paar Jahren Bilder von verhungernden
Kindern aus diesem Land sehen wird. Die Schweiz sollte
einmal klar sagen, dass der Einsatz der Hungerwaffe
gegen Völker geächtet werden muss. Diese Initiative
sollte nicht etwa im Rahmen der Uno, sondern im Rahmen
des Kriegsvölkerrechts ergriffen werden.
Defizite im Innern
Remo Gysin (sp., Basel-Landschaft) kritisiert die
Abstinenz der Schweiz bei zahlreichen Konventionen der
Internationalen Arbeitsorganisation sowie bei Uno-
übereinkommen und Sozialcharta. Unsere Defizite in der
Menschenrechtspolitik im Inland werden auch
offensichtlich, wenn man an den Frauenhandel und die
Working Poors denkt. Auch im Asylbereich haben wir
Lücken, denn die Zwangsausschaffungen müssen als
eigentliche Folter bezeichnet werden.
Peter Kofmel (fdp., Solothurn) findet, von
Menschenrechten sollte man nicht nur reden, vielmehr
sollte man etwas dafür tun. Die Bilanz ist quantitativ
beeindruckend und darf sich qualitativ sehen lassen. Es
besteht kein Grund, über der Suppe so lange den Kopf zu
schütteln, bis ein Haar hineinfällt. Sprechen wir
vielmehr vom Guten, das wir tun! Menschenrechte sollten
wenn immer möglich nicht durch Sanktionen geschützt
werden. Hat es schon jemals ein Regime gegeben, das
durch die Hungerwaffe zur Raison gezwungen wurde?
Christoph Mörgeli (svp., Zürich) attackiert den
Europarat, der unter Mithilfe der Schweiz einen
Persilschein für Russland ausgestellt hat, unbesehen der
brutalen Unterdrückung der tschetschenischen Minderheit.
Unser Land hat in den widerwärtigen Russland-Jubel
eingestimmt, und es hat es damit verpasst, ein mutiges
Zeichen zu setzen.
John Dupraz (fdp., Genf) warnt vor einem Abbruch von
Wirtschaftsbeziehungen zu bestimmten Ländern, denn damit
würde den Menschenrechten ein Bärendienst erwiesen. Die
Schweiz kann stolz sein, dass Genf zur Hauptstadt der
Menschenrechtsorganisationen geworden ist.
Hans Widmer (sp., Luzern) bemängelt die finanziell
ungenügenden Aufwendungen für die schweizerische
Entwicklungszusammenarbeit. Es müsste viel mehr getan
werden, damit es auf der Welt weniger Armut und mehr
Gerechtigkeit gibt. Was nützt es den Leuten, wenn sie
verhungern und gar nicht in den Genuss von
Menschenrechten kommen können!
Walter Schmied (svp., Bern) erinnert an den biblischen
Grundsatz: Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg
auch keinem andern zu. Die neutrale Schweiz hat nicht
das Recht, sich im Schlepptau der Mächtigen an
Sanktionen zu beteiligen, unter denen die Bevölkerung
schwer leidet. Der Votant bedauert zutiefst, dassvor
allem Frauen von männlich dominierten Regierungen ihrer
elementaren Rechte beraubt und als Kreaturen zweiter
Klasse betrachtet werden.
Andreas Gross (sp., Zürich) gibt SVP-Sprecher Mörgeli zu
bedenken, dass der Europarat nicht nur aus
dem Ministerrat besteht und dass die parlamentarische
Versammlung sich um eine ausgewogene Haltung in der
Tschetschenienfrage bemüht hat. In der Duma wurden damit
kritische Fragen zur Tschetschenienpolitik möglich. Das
ist ein Fortschritt, der durch den Europarat eingeleitet
wurde.
Beispielhafte Schweizer Engagements
Remo Galli (cvp., Bern) erwähnt zahlreiche beispielhafte
Engagements der offiziellen Schweiz im Dienste der
Menschenrechte. Wegen unserer Neutralität müssen wir es
vermeiden, totalitäre Staatsführer noch zu fördern. In
dieser Hinsicht wäre vermehrte Kohärenz zwischen Aussen-
und Wirtschaftspolitik erwünscht.
Ruth-Gaby Vermot (sp., Bern) greift das Problem der
Exportrisikogarantie für den umstrittenen türkischen
Ilisu-Staudamm auf. In einem Gutachten wurde eben
aufgezeigt, dass mit diesem Projekt Völkerrecht verletzt
wird. Könnte der Bundesrat das Trauerspiel nicht endlich
beenden und die Menschenrechte vor Wirtschaftsinteressen
stellen?
François Lachat (cvp., Jura) hegt Befürchtungen über
eine Aufsplitterung der Menschenrechtspolitik zwischen
Europarat und Europäischer Union. Die europäische
Menschenrechtskonvention ist unteilbar und sollte nicht
durch eine EU-Charta relativiert werden.
Er glaubt nicht daran, dass eine gute Menschenrechtspolitik
darin besteht, andere zu kritisieren. Das Problem ist
viel komplexer. Im Ministerkomitee des Europarats werden
durchaus Vorbehalte zur russischen Tschetschenienpolitik
angemeldet. Bei einer harschen Verurteilung Russlands
hätte die SVP wohl wieder mit der Neutralität und
Souveränität argumentiert. Kohärenz wäre auch bei dieser
Partei angezeigt. Was die umstrittenen Sanktionen
betrifft, ist festzuhalten, dass die Schweiz ihre
humanitäre Hilfe nie an irgendwelche Bedingungen knüpft.
Zu den kritisierten Beziehungen mit China betont der
Bundesrat, dass der Dialog mit diesem Staat möglich ist,
auch wenn es dafür langen Atem braucht. Die Schweiz
sollte nicht als Lehrmeister, sondern als Partner
auftreten. Etwas Bescheidenheit würde auch uns gut
anstehen. Nicht selten wird der Bundesrat nämlich im
Ausland mit der Frage konfrontiert, wie lange eigentlich
die Frauen in der Schweiz das Stimmrecht hätten . . .
Auf entsprechende Zusatzfragen erklärt Bundesrat Joseph
Deiss, dass es arrogant wäre, China eine Frist für den
Menschenrechtsdialog zu setzen. Der Bundesrat will sich
zudem nicht festlegen auf eine Unterstützung einer
Tibet-Resolution bei der Uno-Menschenrechtskommission.
Die Schweiz will nicht als Einzelkämpfer, sondern im
Verbund mit anderen Staaten agieren.
Damit ist die Debatte zum Bericht über die
Menschenrechtspolitik der Schweiz beendet.
( .... und nun ???? )